Wie ich diesem Gefängnis entkam


Bild eienr Brotscheibe, die nur noch aus ihrer Kruste besteht.Wie ich diesem Gefängnis entkam

Meine Essstörung begleitet mich schon das ganze Leben. Ich aß schon als Kind sehr wenig, meinen Eltern war das egal, ich war ja nur ein Mädchen. Dass ich ihnen damit etwas signalisieren wollte, begriffen sie nicht. Damals fingen auch die Übergriffe meines Vaters an.
Meine Großeltern versuchten, mich aufzupäppeln. Sie kochten meine Lieblingsspeisen und gaben mir auch öfters mal Süßigkeiten. Für meine Eltern war nur wichtig, dass ich nicht auffiel, aber ich hatte früh gelernt, nach außen eine Maske aufzusetzen.

Schwierig für mich war zu erkennen dass ich angetrieben wurde Leistung zu bringen, mir aber andererseits von meinen Eltern signalisiert wurde, ich wäre nichts wert, weil ich eben nur ein Mädchen war.
Ich schaffte den Absprung aus diesem Elternhaus aber erst, als ich schon 22 Jahre alt war. Ich hatte es auch aufgegeben, mit dem Dünnsein auf mich aufmerksam zu machen. Jetzt war für mich ganz wichtig, die Kontrolle zu haben und dass ich mir etwas beweisen wollte, nämlich, dass ich etwas im Leben ganz gut beherrschte. Der Teufelskreis begann erneut, da ich noch gar keine Berufserfahrung hatte und mir doch noch Fehler passierten. In Bezug auf das Hungern hatte ich die Kontrolle und fühlte mich sehr stark und leistungsfähig. Ich merkte gar nicht, dass ich die meiste Zeit damit verbrachte festzulegen, was ich wann essen würde. Alles drehte sich um die Waage. Bevor ich etwas aß, stellte ich mich auf die Waage, um mir dann entweder zu erlauben was und wie viel ich essen durfte. Wenn sie zu viel anzeigte, und waren es auch nur 100 Gramm, musste die Mahlzeit ausfallen. Eigentlich stellte ich mich fast jede Stunde auf die Waage.
Mit 37 Jahren war ich sehr risikofreudig, ich zog mit meinem Freund zusammen. Dieses Risiko ging ich das erste Mal in meinem Leben ein und ich scheiterte.

 

Nach 2 Jahren trennte sich mein Freund von mir. Da das für mich eine Niederlage bedeutete, war mein erster Impuls, er hat sich bestimmt von mir getrennt, weil ich so fett geworden bin. So dachte ich, da das Essen oder Nichtessen tief in mir drinnen doch noch eine riesige Rolle spielte. In meinen Augen hatte ich mich in der Zeit mit ihm gehen lassen und nicht immer nur nach der Waage gelebt, wie vor seiner Zeit. Ich hatte die Kontrolle abgegeben und das hatte ich jetzt davon, ich war ohne Wohnung und nahm immer mehr ab. Der Teufelskreis begann erneut.
Mein Arzt überredete mich, in eine psychosomatische Klinik mit dem Schwerpunkt Essstörung zu gehen. Ich blieb fast ein Jahr dort, aber es gelang mir nicht zuzunehmen.
Ich ging auch wieder arbeiten, aber ich merkte, dass ich mich irgendwie nicht mehr konzentrieren konnte. Mir passierten Fehler und das Rad begann wieder von vorn. Nach einem Jahr war ich auf 43 kg abgemagert. Mein Arzt wies mich nach langem Hin und Her in die Psychiatrie ein. Das war das erste Mal, dass ich in einer richtigen Psychoeinrichtung war. Nach 2 Wochen Nichtstun durfte ich dann gehen. Ich hatte 3 kg zugenommen und außerdem hatte ich die Möglichkeit, eine stationäre Traumatherapie zu machen. Die Ärzte und Therapeuten waren der Meinung, dass die Missbrauchserlebnisse aufgearbeitet werden müssten, dann würde auch die Anorexie weggehen, sie hatten Recht. Hier schaffte ich es, bis auf 50 kg zuzunehmen, da ja die eigentliche Ursache für meine Magersucht zwar noch nicht weggefallen war, aber jetzt doch irgendwie benannt werden konnte.

Das Gewicht zu Hause zu halten, war unheimlich schwer. Ich stieg jetzt nur noch einmal am Tag auf die Waage. Mein Körper sandte mir auch Signale, dass er Hunger hatte, aber ich konnte diese jedoch noch nicht deuten. Ein Zeichen für Hunger waren z.B. Magenschmerzen, ich nahm dagegen Tabletten, die mir mein Arzt verschrieb. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es Hunger sein könnte.
Erst jetzt, nach Jahrzehnten, kann ich wieder erkennen, ob der Körper Hunger oder Appetit hat. Das Gefühl des Sattseins habe ich aber noch nicht wiedergefunden. Ich esse jetzt einfach so viel wie ich denke, das ist jetzt eine normale Portion. Es gibt aber auch noch Zeiten, wo ich doch tatsächlich die Kontrolle übers Essen verliere. Das artet dann in Fressanfälle aus, die in die Bulimie-Schiene gehören, in die ich mittlerweile abgerutscht bin, denn die Grenzen zwischen diesen beiden Essstörungen sind fließend.

Vera T.