Sieben Fragen


Interview mit Dr. Günther, Psychiatrische Institutionsambulanz Überlingen

Was für eine Anleitung zum Leben kann man einem Menschen mit Psychose geben?
Es ist schwer, auf diese Frage pauschal zu antworten, denn jeder Mensch, jeder Erkrankungsverlauf, ist individuell. Allgemein gilt für Psychosen das sogenannte Vulnerabilitäts- und Stressmodell. Das bedeutet, dass jeder Mensch eine individuell unterschiedliche biologische Veranlagung hinsichtlich der Anfälligkeit für eine Psychose mitbringt (die sogenannte Vulnerabilität) und dass noch äußere Faktoren (der hier sogenannte Stress) hinzukommen müssen, dass eine Psychose auch tatsächlich ausbricht. Mit Stress sind in diesem Fall äußere Belastungsfaktoren gemeint, wie z.B. heftige Belastungen auf der Arbeit, Schichtdienst, Schlafmangel, Einsamkeit und Isolierung, Beziehungsprobleme, aber auch Konsum von Drogen. Es gibt aber auch innerlich bedingten Stress, der dadurch resultiert, dass wir bestimmte Persönlichkeitseigenschaften mitbringen, welche uns in Krisen ganz unterschiedlich reagieren lassen. Verfüge ich über unzureichende Konfliktlösungsstrategien, kann auch ein äußerlich geringfügiger Stressor (z.B. eine Kränkung, eine Versetzung am Arbeitsplatz) innerlich eine Katastrophe auslösen und Psychosen begünstigen. Die biologische Anfälligkeit für Psychosen, die sogenannte Vulnerabilität, kann man kaum aktiv selbst beeinflussen. Hier haben Medikamente, insbesondere Antipsychotika, großen Stellenwert in der Behandlung. Außerhalb der akuten Erkrankungsepisoden helfen sie, weiteren psychotischen Episoden vorzubeugen. Äußere und innere Stressoren können wir besser beeinflussen und gestalten. So kann jeder von Psychosen Betroffene selbst aktiv Einfluss auf seinen Erkrankungsverlauf nehmen. Zur Minimierung äußerer Stressoren ist es hilfreich, eine gesunde und rhythmische Lebensweise zu pflegen, auf ausreichende Erholung und auf ausreichenden Schlaf zu achten. Alkohol und Drogen – insbesondere auch Cannabis – sind unbedingt zu meiden. Für Menschen, die von Psychosen betroffen sind, ist eine gute Tagesstruktur wichtig, insbesondere natürlich auch verbunden mit einer beruflichen oder sozialen Aufgabe, die als sinnstiftend empfunden wird und weder überfordert oder unterfordert.

Es ist natürlich ganz undenkbar, dass man jeglichen äußeren Stress von sich fernhalten kann. Das bedeutet, dass es hilfreich ist, auch Strategien zum inneren Umgang mit Stressoren, Konflikten und Belastungen zu erwerben. Hier wären wir dann z.B. auf der Ebene der Selbsterziehung und -entwicklung, die durch Psychotherapie oder Entspannungsverfahren unterstützt werden kann. Auch zwischenmenschlicher Austausch und das Gefühl des Verstandenwerdens, der Akzeptanz, ist wichtig. Es ist allgemein erwiesen, dass eine tragfähige Sozialstruktur, z.B. Familienanbindung oder gute Einbettung in ein Hilfssystem (GPZ, WfbM, Wohnbetreuung) einen wesentlichen Beitrag zur psychischen Stabilität leisten kann.

 

● Wie schafft man es von diesen bedrückenden, kranken Gedanken weg zu kommen?
In der akuten Erkrankungsphase treten sogenannte Wahngedanken als sehr schweres Krankheitssymptom auf. Diese Gedanken werden von den Betroffenen aber in der Regel nicht als krankhaft empfunden, können aber je nach Inhalt sehr belastend sein – man denke nur an einen Verfolgungswahn mit den dadurch ausgelösten Ängsten. In der akuten Phase hilft menschliche Beziehung. Eine verlässliche Vertrauensperson in unmittelbarer Nähe kann viel Angst nehmen. Der Wahn kann dann in der Regel aber nur durch Medikamente, insbesondere Antipsychotika und auch bedarfsweise vorübergehend verabreichte Beruhigungsmittel wirksam bekämpft werden.
Treten im weiteren Verlauf, außerhalb oder auch noch innerhalb der abklingenden akuten Psychose krankhafte Gedanken auf, so kann eine Beschäftigung mit anderen Menschen, positiven Themen, vor allem auch mit praktischen Tätigkeiten und Bewegung (Sport, Spazierengehen) den belastenden Gedanken gute Bewusstseinsinhalte und Erfahrungen entgegenstellen und zu einer Entlastung führen. In der Klinik wird nicht zuletzt darum u.a. Psychotherapie, Ergotherapie, Bewegungstherapie und Sport angeboten.

●Ist es nur eine Sache der Medikamente?
Zusammenfassend kann man sagen, dass den Medikamenten v.a. in der Akutbehandlung von Psychosen ein sehr großer Stellenwert zukommt. Meiner Erfahrung nach sind diese hier nicht durch andere Maßnahmen vollständig zu ersetzen. Sehr wichtig sind aber von Anfang an ebenso eine tragfähige therapeutische Beziehung, eine würdige und respektvolle Behandlung und eine genesungsfördernde Umgebung. Mit fortschreitender Genesung kommen dann weitere Therapieverfahren ergänzend ins Spiel.

 

● Schizophrenie ist ja eine unheilbare Diagnose. Aber gibt es da auch etwas Positives dazu zu sagen?
Sehr belastend für die Betroffenen – und nicht zuletzt auch für ihre Angehörigen und ihr soziales Umfeld – sind natürlich schwere Krankheitsverläufe mit vielen Rückfällen oder gar chronische Verläufe, bei denen sich die Betroffenen nicht mehr auf ihr gesundheitliches Ausgangsniveau vor Erkrankungsausbruch erholen. Oft führen wiederholte Krankheitsepisoden zu erheblichen Problemen, wie zum Verlust der Arbeitsstelle aufgrund der krankheitsbedingten Fehlzeiten oder zum Verlust von sozialen und familiären Strukturen. Oft droht sogar der Verlust des Obdachs. Positiv ist aber hervorzuheben, dass Schizophrenie eben nicht immer eine unheilbare Diagnose ist. Bei ungefähr einem Drittel der Fälle handelt es sich um einen gutartigen Erkrankungsverlauf, wo im günstigsten Fall lebenslang nur eine oder sehr wenige Episoden auftreten. Durch konsequente Einhaltung der Therapieempfehlungen, auch hinsichtlich der prophylaktischen Medikation, haben viele Betroffene keine oder kaum Einschränkungen in ihrer Lebensqualität. Ich selbst habe sogar viele Verläufe erlebt, wo im jungen Erwachsenenalter viele schwere Episoden auftraten, dann aber mit fortschreitendem Alter eine deutliche Stabilisierung mit subjektiv guter Lebensqualität der Betroffenen eintrat. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war in den allermeisten Fällen aber eine gute Kenntnis der eigenen Erkrankung, die konsequente Therapie und ein gutes Abstimmen der Lebensumstände auf die individuelle gesundheitliche Situation.

● Wie erleben Sie Menschen mit Psychose?
Die Psychose ist auch für einen Arzt eine Erkrankung, zu der er nur schwer einen verständnismäßigen Zugang findet, wenn er selbst nicht betroffen ist. Um ein Gefühl für diese schwere Erkrankung zu entwickeln, ist man darauf angewiesen, dass man den betroffenen Menschen gut zuhört, sich intensiv mit Ihnen auseinandersetzt. Ich selbst versuche mir auch dadurch eine Brücke zu bauen, dass ich Erlebnisse und Erfahrungen in mir suche, die einen ähnlichen Charakter haben könnten, um mir das Unfassbare vorzustellen. Hier kann vielleicht das Phänomen des Traumes mit seinen ganz eigenen Regeln eine gewisse Hilfestellung geben, vielleicht auch Grenzerfahrungen bei extremen körperlichen oder seelischen Belastungen oder Schlafmangel. Es ist für mich auch als Arzt und professioneller Begleiter von psychotisch erkrankten Menschen eine Herausforderung, mitzuerleben, wie die Grundfesten der Persönlichkeit in der Psychose erschüttert und aufgelöst werden, wie ein Mensch ganz aus der gemeinsam mit anderen Menschen geteilten Realität in sein Eigenleben abgleitet und dort von außen oft kaum noch erreicht werden kann.
Ich habe größten Respekt vor allen Menschen, die durch ihre Erkrankung dieser Erfahrung ausgesetzt sind, ob sie nun wollen oder nicht. Und ich finde es bewundernswert, wie es viele von Psychose betroffene Menschen schaffen, dauerhaft die Kraft aufzubringen, mit den Symptomen und Auswirkungen einer Psychose umzugehen und zu leben, ohne zu verzweifeln.

 

● Was können Sie den Betroffenen sagen und mit auf den Weg geben?
Das vielleicht Schlimmste, was ich bei Menschen erlebe, die an Psychosen erkrankt sind, sind Einsamkeit, Scham, Stigmatisierung und Verlust der sozialen Bezüge, auch nach Abklingen akuter psychotischer Symptome. Ich möchte dazu ermuntern, den Kontakt zum Hilfssystem, z.B. in den gemeindepsychiatrischen Zentren, zu suchen und Hilfestellungen anzunehmen, um wieder soziale Bezüge aufzubauen und wieder eine Aufgabe und einen Platz in der Gesellschaft und unter anderen Menschen zu finden.

● Und den Angehörigen?
Insbesondere leiden auch die Angehörigen von Menschen mit psychotischen Erkrankungen. Sie sehen sich oft ohnmächtig einer Erkrankung gegenüberstehen, die den Betroffenen vollkommen verändert. Oftmals müssen Angehörige zusehen, wie ein akut erkrankter Mensch von außen unerreichbar in die Erkrankung abgleitet, keine Hilfen zulässt und sich vollkommen unverständlich oder sogar gefährlich verhält. Es gehört fast zwingend zum Vollbild einer Psychose, dass die Einsicht in das Erkranktsein aufgehoben ist und dementsprechend keine Behandlungsbereitschaft, geschweige denn die Bereitschaft zu einer Klinikeinweisung, besteht. Gute Worte und Überzeugungsarbeit helfen da in der Regel nicht mehr und lösen nur Frust oder Aggressionen aus. An dieser Stelle ist es wichtig, dass sich Angehörige Hilfe holen und sich über die im individuellen Fall möglichen Optionen beraten lassen. Eine niederschwellige Anlaufstelle ist hier der sozialpsychiatrische Dienst im Gemeindepsychiatrischen Zentrum, mit dem die Situation besprochen werden kann. Im Bedarfsfall werden die mit psychischen Erkrankungen erfahrenen Mitarbeiter auch aufsuchend tätig und können beim Einleiten weiterer Schritte behilflich sein. So kann z.B. der Kontakt zu einem psychiatrisch tätigen Arzt auf kurzem Dienstweg gebahnt werden, ein begleitender Pflegedienst oder Wohnbetreuung installiert werden. Auch muss in Einzelfällen geprüft werden, ob eine erhebliche Gefährdung des Betroffenen vorliegt, die eine forcierte Klinikeinweisung zur Abwehr einer akuten

Gefahr (z.B. bei Gewalttätigkeit, Verletzungsgefahr, Suizidgefahr, schwerer Verwahrlosung) erforderlich machen würde. Haben Angehörige zusammen mit einem Betroffenen einmal eine psychotische Episode durchgestanden, so sollte man gemeinsam mit dem Genesenen Absprachen und Vorkehrungen treffen, um bei einer erneuten Erkrankungsphase hilfreich reagieren zu können. Voraussetzung hierfür ist, dass man über die Erlebnisse und Probleme (z.B. Krankheitsuneinsichtigkeit) in der akuten psychotischen Phase miteinander ins Gespräch kommt. Wichtig ist es, individuelle Frühwarnzeichen zu identifizieren (häufig Schlafstörungen, Anspannung, Reizdurchlässigkeit, Verfolgungsgefühl, Halluzinationen, Herstellen von gedanklichen Beziehungen zu Ereignissen, Dingen oder Menschen, die eigentlich keine objektivierbare Bedeutung für den Betroffenen haben können), die eine erneute psychotische Episode ankündigen können.
Im Idealfall ist der Betroffene dann noch absprachefähig und einsichtig und kann sich in ärztliche Behandlung begeben, bevor er von der Psychose wieder überwältigt wird. Es hat sich als hilfreich erwiesen, schriftlich einen möglichst detaillierten Notfallplan zu erstellen mit Frühwarnsymptomen und den sich daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen.

■ cms

Vielen Dank Herr Günther für Ihre ausführlichen, professionellen und vor allem ehrlichen Antworten.

Name: Stephan Günther

Alter: 42 Jahre

Familienstand: verheiratet, 3 Kinder

Studiengang: Humanmedizin, FA für Innere Medizin,
FA für Psychiatrie und Psychotherapie

Arbeit: PIA Überlingen, Allgemeinpsychiatrie KPP Bodensee

Hobbies: Lesen, Musikmachen, Wandern, Natur und Garten