Daniela S.: Was kann in Präventions-Runden-Tischen gegen dieses Faktum „Erkrankungen auf Grund psychosozialer Faktoren“ Ihrer Meinung nach gefordert bzw. verändert werden?
Dr. Valdes-Stauber: Präventions-Runde-Tische beschäftigen sich meistens mit der Auseinandesetzung hinsichtlich allgemeiner Belastungen und wie man mit ihnen in jeder Lebensphase unterschiedlich umgehen könnte, so z. B. Burnout, Depression, Suchtprobleme etc. Es gibt Selbsthilfegruppen, insbes. in den Bereichen Alkoholkrankheiten, Angst, neurologische Krankheiten, Brustkrebs, Burnout und Depression, alleinstehende Menschen etc.
Der fachliche Begriff „Prävention“ kann als Vorsorge übersetzt werden, d.h. ich sorge für mich in spezieller Weise hinsichtlich des Ausbrechens oder der Verschlechterung einer Erkrankung.
Die WHO unterscheidet „primäre“, „sekundäre“ und „tertiäre“ Prävention.
Primäre Prävention meint den Ausbruch der Erkrankung selber; hier macht es schon einen Unterschied, ob man Suchtstörungen, Hirnblutungen, Dickdarmkrebs, Depression, Herzinfarkt oder Zuckerkrankheit meint. Manche Faktoren sind nicht beeinflussbar (wie das erbliche Risiko für die Krankheit), aber andere Psychosoziale Faktoren zum Teil schon.
Sekundäre Prävention meint den gesunden Umgang, wenn man schon erkrankt ist oder wenn ein bestimmtes Risiko eindeutig besteht. Hier sind die Maßnahmen stärker zu differenzieren je nach Krankheit.
Tertiäre Prävention meint entweder die Reduktion von Rückfällen oder den Umgang mit Chronifizierung, so dass diese nicht zunimmt und dass der betroffene Mensch so selbständig im Alltag bleibt wie es möglich ist.
Daniela S.: Was sind einsichtsorienierte Therapiestrategien?
Dr. Valdes-Stauber: Es handelt sich um Behandlungsmethoden in der Psychosomatik und Psychotherapie, die darauf abzielen, dass ein Patient Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten (das meistens Leidensdruck verursacht) und
seinen eigenen, festgefahrenen emotionalen oder Erwartungsmustern, die sich meistens im Umgang mit anderen Menschen zeigen, herstellen kann. Er „schaut nach innen“, erkennt konfliktträchtige Zusammenhänge in seinem Leben und den Einfluss derselben auf die Probleme mit dem Selbstbild und auf die Interaktion mit anderen, meist nahestehenden Menschen. Diese Methoden sind, vornehmlich in tiefenpsychologisch orientierten Behandlungsansätzen zu finden. Die anderen drei therapeutischen Ansätze sind die Verhaltenstherapie, die systemisch-lösungsorientierten und die Erlebnis orientierten Ansätzen.
Daniela S.: Wie unterscheiden sich verbale und nonverbale Verfahren in der Praxis?
Dr. Valdes-Stauber: Verbale Verfahren sind diejenigen, die auf dem gesprochenen Wort aufbauen, so z. B. das
Einzelgespräch, die Zielformulierung, die lösungsorientierte Arbeit, die Gruppentherapien auf Gesprächsbasis etc. Nicht–verbale Therapien basieren meist auf dem unbewußten Ausdruck des Leibes unter verschiedenen Bedingungen: in der Entspannung, in der Musiktherapie, im Tanz, in der Konzentrativen Bewegungstherapie, in der Körperwahrnehmung oder in plastischen Ausdrucksverfahren wie Malen.
Es geht vor allem darum, emotionale Regungen zu spüren, einzuordnen und zu verstehen. Es handelt sich um einen anderen Zugang zur eigenen Lebensgeschichte und zu den eigenen Schwierigkeiten als bei Verfahren, die das gesprochene Wort als therapeutisches Instrument verwenden. Beide ergänzen sich in der Psychosomatik.
Daniela S.: Bekommen die Patienten „Tricks“ gezeigt, wie sie mit ihren Schwächen im Leben und Zusammenleben mit ihren Mitmenschen besser umgehen können?
Dr. Valdes-Stauber: Die sog. „Tricks“ sind geschickte, unkomplizierte und schnell einsetzbare Methoden, um vermeiden zu können, immer in dieselbe „Kerbe“ zu schlagen und darunter zu leiden, immer an denselben „Steinen“ zu stolpern oder in dieselben „Fettnäpfchen“ zu treten. Wir nennen diese Maßnahmen „Skills“ oder Fertigkeiten und sie sind bei impulsiven Handlungen gut einsetzbar. Wir reden auch von Maßnahmen der „Stimuluskontrolle“, d. h., wie kann man sich gegen die Macht von äußerlichen Faktoren, die in uns negatives Verhalten auslösen, schützen. So z. B. bei Neigung zu Ängsten, pathologisches Kaufen oder Suchtmittelkonsum.
Daniela S.: Was dürfen wir unter Bezugspflege verstehen?
Dr. Valdes-Stauber: Bezugspflege beschreibt eine ganzheitlich orientierte Vorgehensweise innerhalb der Arbeitsorganisation der Kranken- und Altenpflege, bei der die Zuordnung einer Pflegekraft zu einer bestimmten Gruppe Pflegebedürftiger den Arbeitsablauf innerhalb einer Pflegeeinheit strukturiert.
Daniela S. : Was bedeutet der Begriff „somatische Abklärung“ und wie geht diese vonstatten?
Dr. Valdes-Stauber: Wie bei jedem Menschen, der medizinisch betreut wird, erfolgt eine Klärung, ob es körperliche Störungen gibt, die Hinweise auf körperliche Erkrankungen sein könnten. Auch in der Psychiatrie und in der Psychosomatik wird der körperliche (somatische) Aspekt berücksichtigt, weil der Mensch auch in der Psychiatrie und Psychotherapie ganzheitlich berücksichtigt wird. Außerdem ist wichtig zu berücksichtigen, dass körperliche Erkrankungen oder Störungen einen großen Einfluss auf seelische Prozesse haben können und umgekehrt seelische Prozesse auf die körperliche Gesundheit, vor allem Immunsystem, Hormone und Kreislauf. Die wesentlichen sog. „somatischen Abklärungsmethoden“ sind die körperliche Untersuchung und die gezielte Laboruntersuchung. Weitere apparative Untersuchungen erfolgen gezielt bei bestimmten Auffälligkeiten.
Daniela S.: Gibt es statistische Daten über die Patienten, die SINOVA behandelt?
Dr. Valdes-Stauber: Wenn man sich nur auf die stationäre Psychosomatik in Friedrichshafen bezieht, kann man sagen, dass wir im Jahre 2012 mehr als 140 Patienten stationär behandelt haben, davon ein Drittel Männer und zwei Drittel Frauen. Im Schnitt sind die Patienten 43 Jahre alt, der Jüngste 21, die Älteste Patientin 70 Jahre alt. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist klein. Wir beobachten, dass immer mehr junge Männer aufgenommen werden.
Daniela S.: Was sind die häufigsten Diagnosen und welche Aufenthaltsdauer verbinden Sie damit?
Dr. Valdes-Stauber: Die mittlere Verweildauer beträgt 49 Tage, wobei es größere Unterschiede gibt, was man bei der Streuung der Werte feststellen kann (Standardabweichung 22,4 Tage). Der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist auch hier sehr klein.
Die Aufenthaltsdauer ist deutlich länger als in der Psychiatrie, weil es hier um ein anderes Setting geht, bei welchem Zeit und eine angepasste Zielsetzung zentral sind; in der Psychiatrie geht es häufig um Kriseninterventionen, die extrem wichtig und häufig sehr aufwendig sind. In der Psychosomatik geht es um eine Aufarbeitung, die Zeit beansprucht.
Die wichtigsten Diagnosen sind Depression, Angststörungen, Anpassungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen.
Daniela S.: Wie lange dauert die Beantragung einer psychosomatischen Therapie?
Dr. Valdes-Stauber: Für eine ambulante Behandlung im Rahmen einer PIA braucht man keinen Antrag, wenn die Indikation besteht. Auch nicht bei einer Aufnahme in einer Akutpsychosomatik (hier aber ein Vorstellungsgespräch, um die Indikation zu überprüfen). Einen Antrag braucht man, wenn man eine ambulante Regelpsychotherapie anstrebt oder eine stationäre psychosomatische oder sonstige Rehabilitationsbehandlung. Die Wartezeiten können mehrere Monate betragen, weil die Anfrage größer ist als das Angebot und weil eine Indikationsprüfung durch den Kostenträger Zeit beansprucht.
Daniela S.: Gibt es auch Störungen und Konflikte in Zusammenhang mit der männlichen Entwicklung?
Dr. Valdes-Stauber: Vor wenigen Monaten erschien ein Artikel in der renommierten Wochenzeitschrift „Die Zeit“, in welchem die Nöte junger erwachsener Männer dargestellt werden und dass sie weniger Gehör im Versorgungssystem erhalten als andere. Die Notwendigkeit, sich dieser Gruppe zu widmen, aber auch Männern in der krisenhaften Lebensmitte, die eher körperlich erkranken, ist erkannt worden. Wir setzen uns mit dieser Gegebenheit auch auseinander.
Daniela S.: Gibt es frauenspezifische Behandlungsmodelle? Wer tritt im ZfP für die Frauenrechte ein?
Dr. Valdes-Stauber: Wir verfügen in SINOVA Ravensburg über eine frauenspezifische stationäre Gruppe. Die allermeisten Mitarbeiter in der Pflege und im therapeutischen Bereich sind Frauen. Psychosomatik ist ein weiblicher Beruf geworden. Wir haben eine Gleichstellungsbeauftragte, die sich um die Belange der Frauen kümmert, so dass keine ungleiche Behandlung erfolgt. Gewalt, Selbstschutz, etc. bei Frauen werden bei uns aktiv angegangen, auch mit Schulungen: zum Beispiel bei jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ).
Daniela S.: Vielen Dank für das aufschlußreiche, interessante und ermutigende Gespräch mit Ihnen Herr Dr. Valdes-Stauber!
Und zum Abschluß noch ermutigende Worte, die ich mir nebenbei im Gespräch notierte: Man muß Widersprüche aushalten lernen und kann trotzdem kreative Wege finden, die das Leben wieder lebenswert machen. Man muss selbst aktiv werden, um eine gewiße Lebensqualität wieder zu erreichen. Auch wenn ich irgendwie Opfer der Krankheit bin, habe ich die Verantwortung für mein Leben!
Daniela S. und Carina S. (Fotos)