Erfahrungsbericht
Im Moment bin ich „nur noch“ von Nikotin und Kaffee abhängig.
Das war nicht immer so.
Ich stolperte von einer Sucht in die nächste, das nennt man Suchtverlagerung.
Angefangen hat es mit einer Magersucht im Alter von 15/16 Jahren, wobei mir nicht klar war, dass das auch schon eine Sucht war. Die Essstörung war zwar immer im Untergewicht,
aber nicht im lebensbedrohlichen Zustand; der kam erst später. Grund für die Magersucht war ein ganz ganz schlimmes, traumatisches Erlebnis. Ich konnte mich aber niemandem anvertrauen. Hab alles in mich reingefressen, für reale Nahrung blieb da kein Platz mehr. Gegessen hab ich Joghurt, Salat und Obst. Wenn es sich nicht umgehen ließ, habe ich ganz langsam gegessen oder ich sagte, „ich habe schon gegessen“ oder „ich esse später. Was ich nicht ertragen konnte, war, wenn jemand anderes früher mit dem Essen fertig war. Dann habe ich auch sofort aufgehört zu essen. Ich hatte und habe auch heute noch keinen richtigen Spiegel, weil ich es abstoßend finde, mich darin zu sehen.
So richtig akut wurde die Magersucht erst wieder nach einer Trennungssituation 20 Jahre später. Auch da wollte ich nicht glauben, dass ich unter Magersucht litt, obwohl vieles darauf hinwies. So habe ich das engere Umfeld bewusst getäuscht, so hatte ich immer ein Glas mit Gummibärchen oder Bonbons auf meinem Schreibtisch, woraus sich aber meist meine Kollegen bedienten. Zum Mittagessen bin ich auch nicht mehr mitgegangen. Da begann meine „Suchtkarriere“. Ich verbrachte 8 Monate in einer psychosomatischen Klinik wegen meines Untergewichts, aber nichts half, auch nicht die Zwangsmaßnahmen oder Verbote. Ich hatte einen Vertrag, dass ich wöchentlich 300 Gramm zunehmen musste, damit ich wenigstens Ausgang in Begleitung hatte, oder an den wöchentlichen Wanderungen teilnehmen durfte. Auch die Einzel- und Gruppentherapien wurden reglementiert. Als sich nach den 8 Monaten nichts an meinem Gewicht geändert hatte, wurde ich mit den 42 kg entlassen, also mit dem gleichen Gewicht, mit dem ich gekommen war. In dieser Klinik hatte ich erstmals Kontakt mit Schlafmitteln. Mein Hausarzt verschrieb die weiter, sagte aber nichts zum Suchtpotenzial. Da ich nach dieser langen Pause meinen Arbeitsplatz nicht verlieren wollte, verschrieb er mir Tranquilizer. Er wies mich auch darauf hin, dass das abhängig macht, hat es aber verharmlost. Er versicherte mir, dass wäre in 3 – 4 Wochen Urlaub wieder „hinzukriegen“. In der Klinik kamen dann die ersten Flashbacks aus meiner Kindheit, ich musste mir einen Psychotherapeuten suchen. Auch dort hatte ich noch die Auflage, nur wenn ich 45 kg wog, durfte ich zur Therapie gehen. Ich musste also montags immer zu meinem Hausarzt auf die Waage und wenn das Gewicht ok war, durfte ich am nächsten Tag zur Therapie gehen. Es drehte sich den ganzen Tag lang alles ums Essen. Ich stieg auch mindestens 20 Mal am Tag auf die Waage. Wenn ich zugenommen hatte – auch wenn es nur 100 Gramm waren – nahm ich noch mehr Abführmittel.
Erfahrung mit Benzodiazepin machte ich dann in der Psychiatrie, in die ich wegen des extremen Untergewichts kam. Man gab mir erstmals Diazepam (Valium), wegen meines ausgeprägten Bewegungsdrangs. Nach 9 Tagen hatte ich es geschafft und die erforderlichen Kilos angefuttert, damit ich entlassen werden durfte. In der „ Traumaklinik“ bekam ich dann wieder einen „Essvertrag“. Aber komischerweise hab ich dort das erste Mal zugenommen. Es war schlimm, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, aber auch dort wurde das Diazepam erhöht und es kam noch Tavor als Bedarf dazu, sowie Zopiclon als Schlafmittel. Auch die ambulante Psychiaterin hat die Benzodosis immer wieder erhöht. Das ging so 3 Jahre, dann habe ich einen ambulanten Diazepam-Entzug gemacht. Innerhalb von 8 Monaten von 8 mg Diazepam auf 2 mg. Der Erfolg hielt so ein halbes Jahr an, dann ging es wieder nicht mehr ohne. Innerhalb von einem Jahr war ich auf einer noch höheren Dosis. Aus meiner Magersucht entwickelte sich eine Bulimie. Als ich das letzte Mal zur Intervalltherapie in die Klinik ging, sagte man mir, dass das das letzte Mal wäre, wo ich mit Benzos aufgenommen würde. Dort versuchte man diesmal, das Tavor zu reduzieren, was auch gelang. Ich wurde mit der Hälfte vom Tavor entlassen. Ich hatte dafür aber massive Schlafstörungen; dagegen wurde ein neues Schlafmittel zusätzlich verordnet. Irgendwie kam ich mit den Medikamenten nicht mehr klar, war aber damals der Meinung, dass ich gut mit den Medikamenten umgehen könnte. Ab und zu (meist am Wochenende) nahm ich nachmittags schon Tavor und Zopiclon und dann abends nochmal die verordnete normale Dosis. Zu diesem Zeitpunkt nahm ich 8 verschiedene Medikamente.Ich zog dann nach Überlingen und meine Ärztin setzte erstmal ein Schlafmittel ab. Danach wurde das Tavor nur noch als Bedarf eingesetzt. Ich begann mit einer ambulanten Psychotherapie und konnte das Diazepam reduzieren. Nach 3 Jahren „normaler“ Psycho-
therapie kamen wir an einen Punkt, wo wir zur Erkenntnis kamen, dass wieder stationäre Traumatherapie angesagt war. Aber dafür musste ich einen Entzug machen. Mit meiner Betreuerin vom ambulant betreuten Wohnen ging ich zur Diakonie in der Christophstraße. Von dort wurde ich an die Suchtberatungsstelle der Diakonie in Friedrichshafen verwiesen, die ein Vorgespräch mit mir machten, um zu klären, wie die Motivation bei mir war. Die Ärztin dort bescheinigte mir auch Motivation, meinte aber, dass ich
wegen des komplexen Krankheitsbildes wohl nicht dauerhaft auf Benzodiazepin verzichten könnte. Bei einem Besichtigungstermin in der Weissenau kamen mir doch Bedenken, weil auf der Station hauptsächlich Alkoholiker zum Entzug da waren und auch nur 2 Frauen. Ich ging dann doch hin. Angesetzt waren zwei Wochen, wobei mir gesagt wurde, dass ich in der Zeit keine Therapien hätte, außer einmal am Tag ein kurzes Gespräch mit der Sozialarbeiterin.
Es wurden dann 3 Wochen daraus, weil das Ausschleichen langsamer ging als gedacht. Ich fühlte mich wie im Gefängnis. Aber nach drei langen Wochen hatte auch ich es geschafft. Die Wochen waren sehr langweilig, da ich auch durch ein Medikament Sehstörungen hatte und dadurch weder Malen, noch Lesen, noch Schreiben konnte. Das Raucherzimmer lud auch nicht zu einem längeren Aufenthalt ein, auch durfte man da keine Getränke mit reinnehmen. Jetzt musste ich nur noch 6 Monate ohne Tavor oder Zopiclon durchhalten. Ich arbeitete nur auf das Ziel hin.
Im September 2010 durfte ich dann wieder in die „Traumaklinik“ in den Taunus. Ich konnte die Zeit gut nutzen und zum ersten Mal richtige Therapie machen, nicht nur Stabilisierung wie bei den vergangenen Aufenthalten. Im letzten Jahr fand ich dann auch einen Traumatherapeuten in Überlingen, der auch mit der EMDR-Methode behandelt. Obwohl er nur eine Zulassung als Suchttherapeut hat, konnte ich aufgrund meiner Suchtvergangenheit einen Platz bekommen. Das hat sich auch bewährt, weil ich immer wieder an den Punkt kam, wo ich das Gefühl und den Wunsch hatte, nur Tavor könnte mir helfen und dass ich ohne Zopiclon nicht schlafen könnte. Mein Therapeut und auch meine Psychiaterin machten mir Mut, weiterzumachen. Für die Angst und Panikanfälle bekam ich Atosil und zum Schlafen ein Neuroleptikum, das als Nebenwirkung müde macht. (Ich nehme das Medikament nur, weil es müde macht). Ich bin ganz stolz, dass ich jetzt schon fast 3 Jahre keine Beruhigungs- und Schlafmittel mehr nehme. Ab und zu kommt meine Bulimie noch durch, aber ich bin auf dem Weg, auch diese Sucht noch in den Griff zu bekommen.
Vera T.