Flucht in die Freiheit


Deutsch-deutsche Fluchtgeschichten

hellblau_punktWer sich mit deutscher Nachkriegsgeschichte auseinander gesetzt hat, weiß, dass die ehemalige sowjetische Besatzungszone später zur DDR wurde; zur Deutschen Demokratischen Republik.

Leider hatte dieser Staat so gar nichts Demokratisches an sich. Deshalb flohen viele der Bürger in den Westen – in die ehemalige englische, französische und amerikanische Besatzungszone. Heute ist das Recht auf Freiheit ein Grundrecht, das auch international in den Grundrechten der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde. Zwischen Kriegsende 1945 und der Errichtung der Mauer um zunächst Westberlin herum und etwas später längs der Innerdeutschen Grenze 1961 war das jedoch noch nicht so. Solange die Grenzen noch offen waren, flohen die Menschen millionenfach vor der stalinistischen Diktatur. Das SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland)- Regime wusste sich gegen den Massenexodus nicht anders zu helfen, als seine Staatsbürger buchstäblich einzumauern.

Man kann den Freiheitswillen so vieler Menschen aber nicht wirkungsvoll eindämmen. Seit es die Mauer in Berlin und die Grenzanlagen zwischen den deutschen Staaten gab, haben Menschen in der DDR mit viel Fantasie und Einfallsreichtum Fluchtpläne verwirklicht – manche eher unauffällig, andere spektakulär.

Von diesen Geschichten will ich erzählen; die Namen sind von mir geändert worden.

Herr Feuer bekam durch einen Unfall im Kindesalter eine Sprachstörung: Er stotterte. In der Schule wurde er ab diesem Zeitpunkt veralbert und nachgeäfft. Er bekam von niemandem Beistand, und so wuchs das Trauma durch den Unfall im Verborgenen weiter zu einem größeren Trauma durch die Sprachstörung. Das hinderte ihn sein ganzes Leben lang daran, wirklich in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Er hatte von „Freunden“ gehört, dass es im Westen viel schöner sei, dass man es dort leichter habe und es so gut wie keine Probleme geben würde. Anerkannt zu sein – diesen Herzenswunsch wollte er sich erfüllen. Deshalb entschloss er sich, in den Westen zu fliehen. Durch eine Verkettung glücklicher Umstände gelang es ihm, die Grenzanlagen zu überwinden, welche die „Grenzer“ (=Grenzposten) für unüberwindbar hielten und dementsprechend nachlässig bewachten. Dieser Weg war nicht so leicht, wie es sich hier anhört, und dauerte insgesamt 3 Tage. Herr Feuer musste sich immer wieder ver stecken und durch genaues Beobachten herausfinden, wohin es weitergehen könnte. Schließlich hatte er das nötige Glück und kam unverletzt – nur mit einigen blauen Flecken und ziemlich schmutzig – im Westen an.

Wir wissen alle, dass seine Vorstellung vom Leben in Westdeutschland zum größten Teil nicht den Tatsachen entsprach. Herr Feuer fand auch hier nicht sein Paradies und die Anerkennung, die er sich so wünschte. Er geriet an falsche Freunde, die ihn ausnützten und um sein kärgliches Geld brachten. Durch sein Stottern wurde er bei der Polizei ebenfalls nicht für voll genommen. So konnte er sich gegen diese Ungerechtigkeiten nicht wehren. Herr Feuer hat ein großes Talent – er kann sehr gut Singen und begleitet sich selbst dabei auf der Gitarre. Seine immer mal wieder aufkommende Bitterkeit kann er daher mit Liedern von Freddy Quinn und Hans Albers dämpfen und mit seiner Musikalität ausgleichen. Das gibt ihm auch die Chance, immer mal wieder etwas Geld zu verdienen. Ich wünsche ihm auf seinem weiteren Lebensweg viel Glück!

Eine weitere Fluchtgeschichte – über einen jungen Mann; nennen wir ihn .. Sven. Er kommt wegen staatsfeindlicher Äußerungen ins Gefängnis. Er hält auch im Knast nicht mit seiner Meinung zurück, dass das DDR-Regime ein einziger Sauhaufen wäre und dem Untergang geweiht. Seine Bewacher reagieren mit harten Schikanen. Schließlich wird er nach über fünf Jahren zu einem Grenzübergang geführt und ohne viel Aufhebens über die Grenze geschickt.

Sven findet Hilfe bei einem früheren Freund und Studienkollegen, Ulrich, dem die Flucht einige Jahre zuvor gelungen war. Dieser Freund arbeitet angeblich als Taxifahrer, hat aber immer schmutzige Fingernägel. Das kommt unserem jungen Mann irgendwie seltsam vor, aber er ist froh über dessen Hilfe und will deswegen nicht nachhaken. Ein weiterer Bekannter von Ulrich stößt zu der kleinen Gemeinschaft. Sven fühlt sich von ihm regelrecht verhört, dieser Mann will von ihm unendlich viele Details seines Lebens wissen. Schließlich weihen ihn die beiden anderen ihn in einen gewagten Plan ein: sie bauen gemeinsam mit anderen handverlesenen Fluchthelfern einen Tunnel, von einer ehemaligen Bäckerei in Westberlin zu einem alten und verwahrlosten Gebäude im Ostteil der Stadt. Und er ist dazu ausersehen, praktische Hilfe in Form von Geld, Gasmasken und Belüftungsmaterial bei Westberliner Institutionen und Politikern zu besorgen. Aufgrund seiner Geschichte zweifelt niemand an seiner Glaubwürdigkeit. Die Arbeit hat bereits begonnen und ist schon über die Zonengrenze weit gelangt – aber ohne Belüftungsmaterial kann die Arbeit nicht beendet werden. Sven bittet die richtigen Leute um Hilfe – das Material und ausreichend Geld wird zur Verfügung gestellt, die Arbeit kann weitergehen. Schließlich ist der Tunnel fertig. Verbindungsleute im Osten sagen den Verwandten, Freunden und vertrauens-würdigen Fluchtwilligen Bescheid. Die Flucht durch den Tunnel beginnt. Alles ist genau getaktet, damit die Menschen, die in dem alten Gebäude verschwinden, nicht auffallen. In der ersten Nacht werden 28 Leute durch den Tunnel geschleust, in der zweiten Nacht 29 – durch einen dummen Zufall fliegt die ganze Organisation auf! Auch den Fluchthelfern gelingt der Weg zurück nach Westberlin, bevor der Tunnel von ihnen gesprengt wird. Fluchtgeschichten über und unter der Erde, durchs kalte Ostseewasser und durch die Luft gibt es viele.

Ich gebe neugierigen Lesern gern weitere Buchtipps.

Diese Schrift ist wörtliches Zitat aus dem Buch „Faszination Freiheit“ von Bodo Müller. ISBN 978-3-86153-216-3

LUE

VEB F.A. Brockhausverlag, Titel: DDR - Deutsche Demokratische Republik,
Autoren: Ulrich, Seifert, usw. /
Foto-Volksarmee