Die FAZ berichtet am 18.2.2016, 844 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kurz umF genannt, werden vermisst. Es handele sich in den überwiegenden Fällen um Jugendliche aus Afghanistan, Eritrea, Syrien, Marokko, Algerien und Äthiopien, so teile eine Sprecherin des hessischen Sozialministeriums mit. Allein der Begriff umF, wie stumpf und dumpf das klingt – das sind Kinder und Jugendliche, heranwachsende Menschen, daher werden wir im folgenden Text auf diese Abkürzung verzichten und von Kindern und Jugendlichen sprechen.
Ich habe beim Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren in Baden-Württemberg schriftlich angefragt, wie hoch denn die Zahl der Vermissten in Baden Württemberg sei. Ich bekam Antwort per Briefpost: „Aktuell sind mehr als 550 Kinder und Jugendliche in den polizeilichen Fahndungssystemen erfasst. Mehrfacherfassungen sind nicht völlig ausgeschlossen, ein erheblicher Teil der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge führe keine Ausweispapiere mit sich, es ist prinzipiell möglich, unterschiedliche Personalien anzugeben. Die vorstehend genannten Zahlen sind daher möglicherweise zu hoch und müssen sehr zurückhaltend interpretiert werden und stellen darüber hinaus eine Momentaufnahme dar.“ Wikipedia definiert Flucht als eine Reaktion auf Gefahren und Bedrohungen oder auf als unzumutbar empfundene Situation. Sie geschieht oft ziellos und ungeordnet, manchmal auch heimlich, oft plötzlich und eilig. Warum flüchten junge Menschen alleine? Wo sind die Eltern? Sie fliehen aus dem Krieg. Ganze Städte sind ausgebombt, Schulen zerstört, die Häuser unbewohnbar, sauberes Trinkwasser und Nahrung fehlen, die medizinische Versorgung ist nicht mehr gewährleistet. Bürgerkriege und die Gewalt durch islamistische Terroristen sind derzeit die häufigsten Fluchtursachen.
Familien schicken ihre Kinder alleine auf die Flucht, weil sie in ihrem Land keine Zukunft sehen, das Geld aber für eine Flucht der ganzen Familie nicht reicht. So sollen zumindest die Kinder die Chance auf ein besseres Leben erhalten. Lieber am Leben und flüchten. dabeisein bedeutet hier einfach am Leben sein, aber die Kinder und Jugendlichen sind außen vor, weil die Familie und somit der soziale und kulturelle Rückhalt fehlt. Bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet in Deutschland ankommen, sind die Eltern schon durch Krieg oder Terror getötet worden, oder sie sind mit der Familie gemeinsam aufgebrochen, wurden auf der Flucht jedoch tragischerweise getrennt. Das Trauma dieser Kinder ist groß. Sie sind zwar dabei, aber doch außen vor, denn sie können am sozialen Leben aufgrund der Traumatisierung, die oft lähmt und schwächt, kaum teilhaben und den Trennungs- und Verlustschmerz – wenn überhaupt – nur sehr schwer überwinden. Ganz zu schweigen von den grausamen Bildern des Krieges, die sie ein Leben lang mit sich tragen. Für Kinder und Jugendliche, die unbegleitet auf der Flucht sind und in Deutschland ankommen, sind die jeweiligen Jugendämter zuständig. Wie sie dann jedoch betreut und wo sie untergebracht werden, ist regional sehr unterschiedlich:
in Kinder- und Jugendeinrichtungen, in Pflegefamilien, in Hotels und Jugendherbergen, in Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge. Bei wenig intensiver Betreuung ist es nicht verwunderlich, wenn die jungen Flüchtlinge sich wieder selbständig auf den Weg machen, um z.B. Verwandte zu suchen und dann als vermisst gelten. Nach erster Skepsis hat mich die Handhabung im Bodenseekreis, die Kinder und Jugendlichen in Kinderheimen unterzubringen, doch noch überzeugt und sogar positiv überrascht. Ich war zu einem Gespräch mit der Leiterin eines Kinderheimes sowie der Leiterin der „Eine-Welt-Gruppe“ eingeladen. Die traumatisierten Kinder kommen dort an, leben vorerst gut und wohl behütet in dieser sicheren „Eine Welt Gruppe“ und geschützt auch vor der Außenwelt. Erst nach drei bis sechs Monaten werden Schritte in die Öffentlichkeit gewagt und kleinere Ausflüge unternommen. Viele Flüchtlinge – erwachsene ebenso wie minderjährige – bräuchten auf Grund ihrer traumatisierenden Erlebnisse eine Behandlung, nur sehr wenige kommen in den Genuss. Für manche jugendlichen Flüchtlinge ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie „die letzte Wiese“, so der Fachjargon. Bevor sie aus den Kinder- und Jugendpsychiatrien entlassen werden müssen, weil die stationäre Unterbringung von den Kassen nur befristet geleistet werden kann, können sie sich dort auf dieser sog. „letzten Wiese“ erholen. Sie sind dabei, weil sie noch in der Statistik erscheinen,
aber außen vor, weil sie an einem geregelten sozialen Leben nicht teilhaben können. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) äußert sich in einer Pressemitteilung vom 03.02.2016 kritisch zum Asylpaket II, das von der Bundesregierung verabschiedet wurde. „Danach sollen die Asylbehörden davon ausgehen, dass insbesondere PTBS (posttraumatische Belastungsstörungen) nicht zu den ‚schwerwiegenden Erkrankungen‘ gehören, die eine Abschiebung verhindern. Der Gesetzgeber spricht in diesem Zusammenhang von ‚vermeintlich gesundheitlichen Gründen‘ und stellt damit Flüchtlinge unter Generalverdacht, psychische Leiden nur vorzutäuschen. Er behauptet ferner, dass psychische Erkrankungen ‚schwer diagnostizierbare und unüberprüfbare‘ seien. Richtig ist, dass für diese Erkrankungen seit Langem wissenschaftlich konsentierte Diagnosekriterien bestehen, die durchaus überprüfbar sind.“
Mein Eindruck ist, dass psychische Erkrankungen bagatellisiert werden sollen, um die notwendigen Ausgaben im kalkulierbaren Rahmen zu halten. Dies kann ich zwar einerseits nachvollziehen, andererseits halte ich das Vorgehen, Menschen in dieser prekären gesundheitlichen Ausnahmesituation abzuschieben und ihnen ärztliche Hilfe zu verweigern für unterlassene Hilfeleistung und somit ein Vergehen am Menschen und auch an unserer Gesellschaft, das die Regierung insgesamt zu tragen und zu verantworten hat.
Wenn traumatisierte Menschen erfahren, dass sie zurück in den Krieg sollen, ist doch – auch wenn wir dies niemals gutheißen – durchaus nachvollziehbar und voraussehbar – dass sie den Weg des Suizid wählen oder es zu irrsinnigen Amokläufen kommt, bei denen unschuldige Menschen verletzt oder getötet werden. Die BPtK fordert daher, „dass schwerwiegende oder lebensbedrohliche psychische Erkrankungen grundsätzlich als Erkrankungen gelten, die eine Abschiebung nicht möglich machen.“ Ich schließe mich dieser Forderung an. Ende April war ich zu Gast bei der Veranstaltung „Forschungsnetzwerke psychische Erkrankungen“. Dabei wurde sehr deutlich, dass für viele Diagnosen Gelder in die Forschung investiert werden, die Traumatisierungen jedoch außen vor sind. Traumatisierte Menschen sind auf dem Weg zur seelischen Gesundheit wohl ausgeschlossen, einfach nicht mit dabei. “Alle traumatisierten Menschen und somit auch Flüchtlinge, die unter psychischen Beschwerden leiden, haben einen Anspruch auf eine angemessene Begutachtung ihrer Erkrankungen. Dies darf nicht daran scheitern, dass die Begutachtung einer Erkrankung für die Behörden eine „große Herausforderung“ darstellt, wie der Gesetzentwurf beklagt“,
stellt BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz fest. „Die deutliche Voreingenommenheit des Gesetzgebers gegen psychische Erkrankungen ist fachlich falsch und fördert massiv die Stigmatisierung aller psychisch kranken Menschen in Deutschland.“ Das „Wir schaffen das“ unserer Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel steht oft sehr alleine da. Die Uneinigkeit innerhalb der Regierung führt zu Missverständnissen und zum Unwillen der Mehrheit, vor allem auch die medizinische Versorgung traumatisierter Menschen mitzufinanzieren. „Wir müssen teilen neu erlernen und definieren,“ sagte Dr. Gerd Müller in seinem Vortrag „Eine Welt – Unsere Verantwortung“ im Foyer der Freien Christen Gemeinde Friedrichshafen. Er ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, CSU Abgeordneter für Kempten, Lindau und das Oberallgäu. „Das ist nicht die letzte Party, die wir feiern. Wir sind verantwortlich für die nachfolgenden Generationen!“ schließt Dr. Müller seine Rede. Dann sollte die Regierung auch danach handeln und nicht am falschen Ende sparen und ich denke: „Einjeder nehme ein Kind an der Hand, um wie viel reicher wäre unsere Welt!“
Wort Agentur Schmid
Quellen:
http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/844-unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge-in-hessen-vermisst-14077534.html
http://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/psychisch-kr-14.html
http://www.apk-ev.de/veranstaltungen/forschungskongress-2016/
http://www.b-umf.de/images/aufnahmesituation_umf_2016.pdf